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„Sportstättenentwicklungsplanung sollte nie ein Wunschkonzert sein“

Prof. Lutz Thieme und Stefan Henn äußern sich im Interview kritisch zum bisherigen Wiederaufbau – Datenlage muss verbessert werden
Stefan Henn, Leiter des Instituts für Sportstättenentwicklung und Prof. Dr. Lutz Thieme, RheinAhrCampus der Hochschule Koblenz. Fotos: M.Heinze / privat

Das Institut für Sportstättenentwicklung Trier (ISE) und die Hochschule Koblenz haben gemeinsam mit dem Sportbund Rheinland (SBR) eine Bedarfsanalyse zum Wiederaufbau der Sportanlagen an der Ahr durchgeführt. Im Interview sprechen die Verfasser der Studie, Stefan Henn (ISE) und Prof. Lutz Thieme (RheinAhrCampus der Hochschule Koblenz), über deren Erkenntnisse.

Sie waren unmittelbar nach der Flut im Ahrtal und haben eine Schadensaufnahme gemacht. Wie viele Sportanlagen waren durch die Flut betroffen und welche Auswirkungen hatte dies auf den Sport vor Ort?

Henn: Insgesamt wurden über 50 Sportstätten und Bewegungsräume durch die Flut stark beschädigt oder zerstört. Dies betrifft sowohl gedeckte Sportanlagen, als auch Sportfreianlagen. Die Auswirkungen auf den Sport waren gewaltig. Durch die zerstörte Sportstätteninfrastruktur waren weder Trainings- noch Wettkampfbetrieb in nahezu allen Sportarten im Ahrtal möglich.

Nach der Schadensaufnahme haben Sie für eine Sportstättenentwicklungsplanung geworben und im Auftrag des Landeskreises Ahrweiler eine Bedarfsanalyse durchgeführt. Was können wir uns darunter vorstellen?

Henn: Eine Bedarfsanalyse ist Teil einer kooperativen Sportstättenentwicklungsplanung. Das Ziel ist es, die Bedarfe an Sportstätten und Bewegungsräume der verschiedenen Nutzergruppen in einem Gebiet zu erfassen. Dies betrifft sowohl die Anzahl an benötigten Anlagen als auch deren Ausstattungsmerkmale. Im Fall der Bedarfsanalyse zum Wiederaufbau der Sportstätten im Ahrtal war das vorrangige Ziel, die Sportvereine und Kommunen beim Wiederaufbau der Sportstätten im Ahrtal zu unterstützen.

Neben dem ISE war auch die Hochschule als weiterer Akteur involviert. Warum haben Sie sich eingebracht?

Thieme: Sportstätten sind ja Teil der sozialen Infrastruktur einer Region und das Rückgrat für den Schul-, den Vereinssport, aber auch für die täglichen selbstorganisierten Bewegungsformen, die zumeist wohnortnah stattfinden. Sportvereine und die Begegnung bei Bewegung, Spiel und Sport sind Quelle sozialen Kapitals vor Ort, das sich immer wieder erneuern muss. Wenn nun die Grundlagen für die Bildung solchen sozialen Kapitals massiv weggebrochen sind, verändert sich eine Region. Letztlich hat uns die Frage umgetrieben, welche Bedeutung den Sportstätten in politischen und administrativen Prozessen in Ausnahmesituationen zukommt und ob diese Prioritätensetzung mit den Prioritäten der Menschen vor Ort im Einklang steht.

Was waren die zentralen Erkenntnisse aus der Bedarfsanalyse?

Henn: In der Begleitung der einzelnen Wiederaufbauprojekte wurde klar, dass die Sportstätten im Ahrtal bereits vor der Flut in Teilen nicht mehr den tatsächlichen Bedarfen und Anforderungen der Sportvereine und weiteren Nutzergruppen entsprochen haben. Es konnten darauf aufbauend Erkenntnisse gewonnen werden, wie eine bedarfsorientierte und nachhaltige Sportstätteninfrastruktur im Ahrtal künftig ausgestaltet werden könnte. Das Beispiel der SG Ahrtal verdeutlicht, dass teilweise sogar zu viele Sportstätten des gleichen Typs vorhanden waren, die die einzelnen Akteure pflegen und unterhalten mussten, obwohl sie mit den Infrastrukturen ihren Trainings- und Wettkampfbetrieb nicht in geregelter Form abdecken konnten.

Thieme: Aus der Bedarfsanalyse ergibt sich, wieviel Nutzungsstunden den Planungen für den Wiederaufbau der Sportstätten in einer Orts- oder Verbandsgemeinde bzw. einer Stadt zu Grunde gelegt werden sollten. Diese Nutzungsstunden verteilen sich auf verschiedenen Funktionen der Sportstätten, beispielsweise den Schul- und Vereinssport, aber auch der wohnortnahen Versorgung des nichtorganisierten Sports. Die Betrachtung der Funktionen von Sportstätten ist dabei etwas, was anfangs in seiner Bedeutung unterschätzt wurde und durch die geltenden Rahmenbedingungen immer noch unterschätzt wird. Unsere Anregung bei künftigen Schadensereignissen wäre nun, bei der Finanzierung des Wiederaufbaus viel stärker die Funktion für die Menschen in den Blick zu nehmen und sich nicht auf bauliche Hüllen zu beschränken. 

Inwieweit werden die Wünsche der Vereine beim Wiederaufbau der Sportanlagen vor Ort berücksichtigt?

Henn: Ich würde hier in erster Linie nicht von Wünschen, sondern von Bedarfen sprechen. Denn Sportstättenentwicklungsplanung sollte nie ein Wunschkonzert sein. Die Vereine konnten uns ihre Bedarfe und Anforderungen aufgrund ihrer Sportangebote im Trainings- und Wettkampfbetrieb vorlegen. Diese sind dann in die Bedarfsanalyse eingeflossen. Natürlich gab es auch in einzelnen Fällen Wünsche, die nicht direkt einer reinen Bedarfsdeckung entsprachen.

Wie können Vereine überzeugt werden, dass ihre Wünsche nicht bedarfsgerecht sind? Sind Sie dabei auch auf Widerstände gestoßen?

Thieme: Wir haben insgesamt eine große Zustimmung für unsere Art der Betrachtung erfahren, zumal diese immer mit dem aktuellen Stand der Fördermöglichkeiten abgeglichen war. Sportvereine sind tief verwurzelt im Leben der jeweiligen Orte in ihrem Wirkungsbereich. Daher gibt es schon ein Verständnis dafür, keine Infrastruktur zu errichten, die mittel- und langfristig nicht bedarfsgerecht ist, deren Betriebskosten und Instandhaltungsaufwendungen aber getragen werden müssen. Aber natürlich gab es auch Grummeln, wenn wir beispielsweise sehr optimistische Prognosen von Sportvereinen vor dem Hintergrund der Demografie nicht geteilt haben.

Liegt in der Katastrophe auch eine Chance für die Weiterentwicklung der Sportinfrastruktur?

Henn: Davon waren und sind wir überzeugt. Viele der Sportanlagen stammen aus den 80er und 90er Jahren und wurden vor dem Hintergrund der damaligen Anforderungen errichtet. Seither hat sich, nicht nur im Ahrtal, im Sport jedoch viel getan. Denken Sie nur an den Ausbau der Ganztagsschule, die Zunahme von Spielgemeinschaften, vor allem im Fußball, dem Aufkommen neuer Sportarten sowie auch die zunehmende Digitalisierung im Sport. So schrecklich wie die Flut war, sie hat im Bereich der Sportstätten die Uhren auf null gestellt. Daher besteht die Chance, jetzt Sportstätten zu erreichten, die heute und auch in Zukunft einer möglichst großen Zahl von Nutzern ein Sporttreiben ermöglichen.

Wie gut gelingt es im Wiederaufbau diese Chance zu nutzen?

Henn: Das gestaltet sich schwieriger als zunächst gedacht. Obwohl das Bewusstsein vielerorts da ist, dass man künftige Sportanlage neu denken muss und auch möglichst viele Akteure in die Planung einbezogen wurden, stockt der Wiederaufbau in Teilen noch deutlich. Häufig blieb es über längere Zeit unklar, mit welchen Fördermitteln aus dem Wiederaufbaufonds die Sportstättenprojekte rechnen können, vor allem dann, wenn die Infrastruktur nicht 1:1 wiederaufbaugebaut werden soll. Das gestaltet die Entscheidungsprozesse in Gemeinden und auch bei den Vereinen schwierig. Weitere Fragen sind die Standortwahl für den Wiederaufbau der Anlagen. Hier gelten, mit Recht, strenge hochwasserrechtliche Einschränkungen. Zudem dauert es mehreren Monate Flächennutzungspläne, etc. abzuändern, um Baurecht für neue Sportanlagen zu schaffen. All dies führt dazu, dass viele Projektträger den „einfachen Weg“ wählen und die Sportstätten 1:1, wenn möglich sogar am alten Standort, wiedererrichten. Dabei fällt eine bedarfsgerechte Anpassung häufig hinten runter.

Ihre Antwort klingt etwas resignierend. Sind Sie enttäuscht über den bisherigen Verlauf?

Thieme: Wir sind nicht enttäuscht. Wir sind der Überzeugung, dass alle Beteiligten in bester Absicht gehandelt haben. Es gab nie Differenzen beim generellen Ziel des Wiederaufbaus der Sportstätten. Wenn nun das Ergebnis weiter weg von einem nachhaltigen und bedarfsgerechten Leitbild ist, dann ist nach den Ursachen zu fragen, um für die Gestaltung vergleichbarer Prozesse bei künftigen Schadensereignissen zu lernen.

Können Sie schon etwas zu den Ursachen sagen?

Thieme: Wir waren und sind unheimlich beeindruckt von der Energie und der Kraft der Akteure im Ahrtal und deren Willen, die Flutkatastrophe zu überwinden. Das gilt für die Verantwortlichen in den Sportvereinen ebenso wie für die Verwaltungen. Wir haben jedoch Zweifel, ob die für normale Bedingungen entwickelten und erprobten Instrumente von Politik- und Verwaltungshandeln geeignet sind, ein solches Ereignis effizient und effektiv im Sinne der Schaffung nachhaltiger und zukunftsfester Lösungen zu bewältigen. Sportstättenentwicklung und Nachhaltigkeit haben zwar schon immer zusammengehört, wurden aber manchmal zugunsten sportlicher oder finanzieller Aspekte vernachlässigt. Das Ahrtal wird ein mahnendes Beispiel dafür sein, dass Sportstättenentwicklung und Nachhaltigkeit zusammengehört.

Ergeben sich daraus konkrete Forderungen an die Politik?

Thieme: Wenn die Ergebnisse des Aufbauprozesses in hoffentlich wenigen Monaten noch deutlicher sichtbar sind, sollten wir prüfen, warum ggf. das Optimum verfehlt wurde und die entsprechenden Ursachen erkunden, damit wir als Sport daraus lernen und ggf. entsprechende politische Forderungen ableiten können. Die Flut hat uns zudem gezeigt, dass die Datenlage zu Sportstätten sehr rudimentär und auf einzelnen Akteure verteilt ist. Ein „Lagebild“ musste daher mühsam zusammengestellt werden. Die Datenlage gilt es zu verbessern. Die nun verfügbaren Daten werden in den geplanten Digitalen Sportstättenatlas für Rheinland-Pfalz aufgenommen.

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