Dehnen – zeitgemäß oder Zeitverschwendung?
Zum neunten Mal lud der Sportbund Rheinland (SBR) zum Special Gesundheitssport ein und rund 150 Übungsleiter*innen wollten sich die neuesten Wissenschaftlichen Erkenntnisse rund um die Themen Schulter und Dehnen nicht entgehen lassen. „Viele Vereine beklagen sich über fehlende Übungsleiter*innen. Daher freue ich mich besonders, hier so viele von Ihnen begrüßen zu können“, verriet SBR-Geschäftsführer Martin Weinitschke in seiner kurzen Begrüßung.
Auch für Referent Thorsten Becker Agelidis war es ein besonderer Abend – und das nicht nur weil er seine Expertise zum dritten Mal bei einem Special Gesundheitssport teilte und damit „die Trilogie komplettiert“, wie Matthias Poeppel, Abteilungsleiter Bildung Sportpraxis, Breitensport beim SBR, augenzwinkernd anmerkte. Für den Leiter der Physiotherapieschule am Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein (GKM) war es gleichzeitig ein Heimspiel. Im Rahmen der kürzlich verkündeten Kooperation zwischen dem SBR und dem Bildungs- und Forschungsinstitut (BFI) des GKM fand das Special Gesundheitssport im modernen Audimax des BFI im Metternicher Feld in Koblenz statt.
Im ersten von zwei Vorträgen ging Becker Agelidis auf das „schnellste Gelenk des Menschen“ ein. Für viele Sportler*innen – vor allem in Wurf- und Überkopfsportarten wie Handball oder Schwimmen – gehören Probleme mit der Schulter zum Alltag. Kein Wunder, denn die Schulter ist sehr komplex und muss teils extremen Belastungen standhalten. „Ich bin einfach ein Schulter-Fan“, verriet der Physiotherapeut und Biomechaniker, und erläuterte einige Risikofaktoren für Verletzungen. Um diesen vorzubeugen, solle das Training auch funktionell und somit ähnlich zum Bewegungsablauf der betriebenen Sportart, durchgeführt werden. Auch die Rumpfstabilität spiele eine wichtige Rolle, denn „durch die kinetische Kette kommt die Kraft, beispielsweise beim Wurf, aus dem gesamten Körper.“ Mit seiner humorvollen Art verstand es Becker Agelidis, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse lebendig und gut verständlich zu vermitteln.
In der Pause zwischen den Vorträgen boten Schülerinnen der Physiotherapieschule Mobilitätstests für die Teilnehmer*innen im Schulter- und Rumpfbereich an und hatten bei kleineren Defiziten gleich die passenden Tipps und Übungen parat.
Im zweiten Teil des Abends widmete sich Becker Agelidis der Frage „Dehnen – zeitgemäß oder Zeitverschwendung?“ und stellte die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema vor. Dabei räumte er auch mit einigen Mythen auf: Studien konnten bisher keinen großen Einfluss von Dehnen auf die Verletzungsprävention nachweisen“, erklärte er. Auch für die Regeneration nach dem Sport oder die Linderung von Muskelkater gebe es laut Wissenschaft keine belastbaren Hinweise auf eine positive Wirkung. Tatsächlich könne statisches Dehnen vor dem Sport die Leistungsfähigkeit sogar verringern.
„Dehnen hat aber auch positive Effekte, fügte Becker Agelidis hinzu. „Längere Dehnzeiten von mind. vier Minuten, 2x pro Woche können nachhaltig die Beweglichkeit steigern, und der psychologische Effekt ist oft nicht zu unterschätzen.“ Für Sportler*innen, bei denen das Dehnen ein fester Bestandteil des Trainings und der inneren Überzeugung ist, könnten Änderungen der Routine sportpsychologische Folgen haben, wie etwa Leistungsabfall oder ein erhöhtes Verletzungsrisiko. „Einem Fußballtrainer würde ich allerdings raten: Nutze die Zeit lieber für gezieltes Krafttraining – das ist effektiver“, fasste Thorsten Becker Agelidis die Ergebnisse zusammen.